ZK 2012 12 - Aktivlegitimation der Gemeinde, welche die in einem Eheschutzverfahren festgelegten Kinderalimente bevorschusst, zur Beantragung einer Schuldneranweisung; Wahrung des Existenzminimums des Unterhaltsschuldners
ZK 12 12, publiziert Mai 2012
Entscheid der 2. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Bern
vom 18. April 2012
Besetzung
Oberrichter Bähler (Referent), Oberrichter Messer und Oberrichter Kunz
Gerichtsschreiber Erismann
Verfahrensbeteiligte
Unterhaltsschuldner X.
vertreten durch Fürsprecher A.
Gesuchsgegner/Berufungskläger
gegen
Einwohnergemeinde Y.
Gesuchstellerin/Berufungsbeklagte 1
Unterhaltsgläubigerin Z.
vertreten durch die Einwohnergemeinde Y.
Gesuchstellerin/Berufungsbeklagte 2
Gegenstand
Anweisung an Schuldner ZGB 177
Berufung gegen den Entscheid des Regionalgerichts Emmental-Oberaargau, Gerichtspräsident Schmid, vom 27. Dezember 2011
Regeste:
• Art. 177 ZGB, Art. 289 Abs. 2 ZGB: Aktivlegitimation der Gemeinde, welche die in einem Eheschutzverfahren festgelegten Kinderalimente bevorschusst, zur Beantragung einer Schuldneranweisung; Wahrung des Existenzminimums des Unterhaltsschuldners bei Schuldneranweisung und Koordination mit bestehender Lohnpfändung
• Art. 289 Abs. 2 ZGB kommt auch bei in einem Eheschutzentscheid geregelten Kindesunterhaltsbeiträgen zur Anwendung. Das Gemeinwesen kann die Schuldneranweisung auch mit Wirkung für die Zukunft verlangen. Das Kind ist nach dem Beschluss, die Unterhaltsbeiträge auch künftig zu bevorschussen, nicht mehr zur Stellung eines Gesuchs um Schuldneranweisung aktivlegitimiert.
• Unterliegt der Unterhaltspflichtige bereits einer Lohnpfändung und lebt aus diesem Grund am Existenzminimum, so hat das urteilende Gericht die Schuldneranweisung mit der Lohnpfändung zu koordinieren. Eine bestehende Lohnpfändung ist vom Betreibungsamt von Amtes wegen zu revidieren, sobald eine vollstreckbare Schuldneranweisung vorliegt. Zu diesem Zweck ist das Betreibungsamt über die Schuldneranweisung zu orientieren.
Auszug aus den Erwägungen:
(...)
II. Formelles
8. Die Einwohnergemeinde Y. bevorschusst (...) das vom Berufungskläger gemäss der gerichtlich genehmigten Trennungsvereinbarung (...) monatlich zum voraus zu zahlende Kinderaliment (...).
9. Die Gemeinde ist im Umfang dieser Bevorschussung in die Unterhaltsforderungen subrogiert (Art. 289 Abs. 2 ZGB). Zwar stützt sich der Unterhaltsanspruch des Kindes vorliegend formell auf einen Eheschutzentscheid und die Schuldneranweisung daher auf Art. 177 ZGB, in dessen Zusammenhang das Gesetz keine ausdrückliche Subrogationsbestimmung zu Gunsten des Gemeinwesens enthält (BGE 137 III 193 E. 3.2 S. 199 f.). Gemäss Art. 176 Abs. 3 ZGB richtet sich der Unterhaltsanspruch des Kindes jedoch nach den Bestimmungen über die Wirkungen des Kindesverhältnisses (Art. 276 ff. ZGB), und der in diesen Bestimmungen die Schuldneranweisung regelnde Art. 291 ZGB geht in Art. 177 ZGB auf (BGer-Urteil 5P.138/2004 vom 3. Mai 2004 E. 5.3, mit Verweis auf BGE 110 II 9 E. 1 d) S. 13 zum alten Recht; vgl. auch Vetterli, FamKomm Scheidung, 2. Aufl. 2011, N 1 zu Art. 177 ZGB). Art. 289 Abs. 2 ZGB kommt daher auch bei in einem Eheschutzentscheid geregelten Kindesunterhaltsbeiträgen zur Anwendung.
10. Die Subrogation umfasst alle mit dem (Stammrecht auf) Unterhaltsanspruch verbundenen Rechte und namentlich auch dasjenige auf Anweisung an Schuldner des Unterhaltsverpflichteten gemäss Art. 291 ZGB (BGE 137 III 193 E. 3 S. 198 ff.). Dem Gemeinwesen steht nach der jüngsten bundesgerichtlichen Rechtsprechung (ebenso wie vor der Bevorschussung dem unterhaltsberechtigten Kind) das Recht zu, die Schuldneranweisung mit Wirkung auch für die Zukunft zu verlangen (BGE 137 III 193 E. 3.8 S. 202 ff.).
11. Damit ist aber auch gesagt, dass das Kind nach der Bevorschussung der Unterhaltsbeiträge (bzw. nach dem Beschluss der Gemeinde, diese auch künftig zu bevorschussen) insoweit nicht mehr zur Stellung eines Gesuchs um Schuldneranweisung aktivlegitimiert ist.
12. (...)
13. Soweit hingegen den Ehegattenunterhalt betreffend, ist einzig die unterhaltsberechtigte Z. (...) zur Stellung eines Gesuchs um Schuldneranweisung legitimiert. (...).
III. Materielles
1. Voraussetzung der Schuldneranweisung nach Art. 177 ZGB ist, dass ein Ehegatte seine Unterhaltspflicht gegenüber der Familie aus welchen Gründen auch immer - nicht erfüllt. Dabei muss die Pflichtvergessenheit eine gewisse Schwere aufweisen, ein Verschulden des Unterhaltspflichtigen wird jedoch nicht vorausgesetzt (BSK ZGB I -Schwander, N 10 zu Art. 177 ZGB).
(...)
5. Es ist unbestritten und aufgrund der ins Recht gelegten Korrespondenz (...) sowie des Kontoauszugs der sozialen Dienste (...) hinlänglich belegt, dass der Berufungskläger seiner Unterhaltspflicht in der Vergangenheit gar nicht nur teilweise nachkam. Die Vernachlässigung der Unterhaltspflichten betraf nicht nur einzelne monatliche Zahlungen, sondern stellte vielmehr einen Dauerzustand dar und erreicht daher die geforderte Schwere. Weiter hat der Berufungskläger offenbar beim letzten Pfändungsvollzug seine Unterhaltspflichten nicht angegeben zumindest keine Zahlungsbelege vorgelegt, weshalb weder Kindernoch Frauenalimente in der Existenzminimumsberechnung berücksichtigt wurden. Dies ist ebenso als pflichtwidrige Vernachlässigung der Unterhaltspflichten zu werten. Nachdem sodann ein Verschulden an der Nichterfüllung der Unterhaltspflichten nicht gefordert wird, sind die Voraussetzungen für die Schuldneranweisung somit vorliegend grundsätzlich erfüllt.
6. Liegt ein Unterhaltstitel, namentlich wie hier eine gerichtlich genehmigte Trennungsvereinbarung, vor, so ist die Anweisung grundsätzlich für den darin festgesetzten Betrag auszusprechen. Das mit der Anweisung befasste Gericht hat sich also in der Regel nicht erneut mit einem abgeschlossenen Eheschutzverfahren und dem darin vorgebrachten und vom Eheschutzrichter berücksichtigten Sachverhalt zu befassen. Indessen hat das Bundesgericht entschieden, auch im Rahmen der Schuldneranweisung seien die grundlegenden Persönlichkeitsrechte des Rentenschuldners zu achten, wozu namentlich gehöre, dass ihm das Existenzminimum belassen werde (BGE 110 II 9 E. 4 S. 15 f.). Nach jüngster bundesgerichtlicher Rechtsprechung sind daher im Rahmen der Anweisung die Grundsätze über die Festsetzung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums bei der Lohnpfändung immerhin dann sinngemäss anzuwenden, wenn sich die Lage des Unterhaltsschuldners seit Erlass des Unterhaltstitels in einer Weise verschlechtert hat, dass die Anweisung in sein Existenzminimum eingreift (BGer-Urteile 5A_578/2011 und 5A_594/2011 vom 11. Januar 2012 E. 2.1, m.w.H.). Erhebt der Unterhaltsverpflichtete einen derartigen Einwand, beantragt er nach Meinung von Vetterli sinngemäss eine Herabsetzung seiner Unterhaltspflicht, welche im gleichen Verfahren zu prüfen sei (Vetterli, a.a.O., N 5 zu Art. 177 ZGB). Unklar bleibt dabei, inwiefern bei der Prüfung der Herabsetzung bzw. (Neu-)Be-rechnung des zu wahrenden Existenzminimums dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung zu Gunsten von Familienmitgliedern des Unterhaltsschuldners ausnahmsweise in sein Existenzminimum eingegriffen werden darf (vgl. BGE 111 III 13 E. 5 S. 15). Diese Frage kann jedoch vorliegend angesichts der nachstehenden Erwägungen offen gelassen werden.
Vorab ist nämlich klar, dass ein Eingriff in das Existenzminimum des Unterhaltsschuldners dann ausgeschlossen ist, wenn nicht das ursprünglich unterhaltsberechtigte Familienmitglied, sondern das in die Unterhaltsforderung subrogierende Gemeinwesen betreibt (BGE 116 III 10 E. 3.2 S. 12 f.; bestätigt in BGE 137 III 193 E. 3.9 S. 204). Nichts anderes kann im Falle gelten, in welchem das die Unterhaltsbeiträge bevorschussende Gemeinwesen nach Art. 177 ZGB die Schuldneranweisung verlangt.
Unterliegt der Unterhaltspflichtige sodann bereits einer Lohnpfändung und lebt aus diesem Grund am Existenzminimum, so hat das urteilende Gericht die Schuldneranweisung mit der Lohnpfändung zu koordinieren (BGE 137 III 193 E. 3.9 S. 204). Grundsätzlich gehen familienrechtliche Unterhaltsansprüche den Forderungen von Drittgläubigern vor. Zwar ist umstritten, ob dies auch im Verhältnis zwischen Schuldneranweisungen und bestehenden Pfändungen gilt (vgl. BSK ZGB I-Schwander, N 6 zu Art. 177 ZGB, und ZK-Bräm/Hasenböhler, N 50 ff. zu Art. 177 ZGB, je m.w.H.). Bei Lohnpfändungen, die für künftige Lohnbetreffnisse revidiert werden können, ist es jedoch konsequent, entsprechend der Rangfolge der Forderungen eine Anpassung vorzunehmen, sobald eine vollstreckbare Schuldneranweisung vorliegt (BGE 110 II 9 E. 4b S. 16 f.; BSK ZGB I-Schwander, N 6 zu Art. 177 ZGB; Schwenzer, FamKomm Scheidung, 2. Aufl. 2011, N 9 zu Art. 132 ZGB; Vetterli, a.a.O., N 6 zu Art. 177 ZGB; ZK Bräm/Hasenböhler, N 53 zu Art. 177 ZGB; BK-Hausheer/Reusser/Geiser, N 20 ff. zu Art. 177 ZGB).
7. (...) Es kommt damit [angesichts des die Unterhaltsverpflichtungen übersteigenden Überschusses] bei entsprechender Koordination der Schuldneranweisung mit den Lohnpfändungen zu gar keinem Eingriff in das Existenzminimum des Berufungsklägers.
8. Die Schuldneranweisung ist deshalb im ersuchten Umfang auszusprechen. Das zuständige Betreibungsamt hat die bestehenden Lohnpfändungen von Amtes wegen zu revidieren (BGE 110 II 9 E. 4 b) S. 16). Zu diesem Zweck ist das Betreibungsamt (...) über die Schuldneranweisung zu orientieren (ZK-Bräm/Hasenböhler, N 53 zu Art. 177 ZGB).
(...)
Hinweis: Der Entscheid ist rechtskräftig